Das Jahr, das nach dem Mauerfall kam

Das Jahr 1990 liegt nun schon drei Jahrzehnte zurück. Wen interessiert es noch, was damals geschah? Zu viel ist seitdem auf die Menschen, vor allem die aus dem Osten, eingestürzt. Wer wissen will, was ist, sollte sich aber mit dem beschäftigen, was war. Denn die Ursachen für zahlreiche Probleme, mit denen sich die Menschen heute auseinandersetzen müssen, haben ihre Wurzeln in eben jenem Jahr, das auf die Euphorie des Mauerfalls folgte.
Der 1972 in Bautzen geborene Autor Jan Wenzel hat sich die Mühe gemacht, eine Vielzahl an ihm zugänglicher Literatur, einschließlich Presseartikel, zu durchforsten und daraus ein Buch mit dem Titel „Das Jahr 1990 freilegen“ zusammengestellt, das am Donnerstag in der Gedenkstätte Bautzen vorgestellt wurde. Zusammen mit Gedenkstätten-Leiterin Silke Klewin und Theaterintendant Lutz Hillmann las Jan Wenzel aus insgesamt fünf Doppelseiten des rund 600 Seiten starken und 2,5 Kilo schweren Wälzers vor. Unter anderem ging es dabei um Debatten am Zentralen Runden Tisch in Berlin und um den Einzug der Marktwirtschaft in der DDR. So hatte der Runde Tisch mit Mehrheit beschlossen, für den Wahlkampf 1990 keine westdeutschen Politiker zuzulassen. Doch diese konnten darüber wohl nur verächtlich lachen. Denn, wie man aus ihren Zitaten entnehmen kann, hielten die alteingesessenen Politstrategen aus dem Westen die Neulinge aus dem Osten einfach nur für unmündige Kinder. Wolfgang Ullmann vom Neuen Forum stellte 1991 rückblickend fest: „Man hat die Opposition der DDR nie wirklich ernst genommen“.
Entlarvend auch das Statement jenes pickligen neuernannten Marktleiters, der den DDR-Bürgern in einem Riesenzelt auf grüner LPG-Wiese die Segnungen der westlichen Konsumgesellschaft darbrachte. Über seine Auslassungen konnten wohl nur die anwesenden Wessis lachen. Die Ossis im Zellentrakt der Gedenkstätte Bautzen dachten wohl eher darüber nach, dass sie nach wie vor vor allem als Konsumenten interessant sind. Als „Verbraucher“ – was für ein entlarvendes Wort!
Interessant bei der Lesung aus dem vielschichtige Band waren auch die weitsichtigen Gedanken bezüglich der Zukunft des Ostens, wie sie Kurt Biedenkopf in jener Zeit niederschrieb. Jener Professor, der als König Kurt“, Sachsen zu einem der noch am meisten blühenden neuen Bundesländer machte.
Nach dem winzig kleinen Ausschnitt, den Jan Wenzel, Silke Klewin und Lutz Hillmann den Besuchern in der Gedenkstätte als Appetithäppchen servierten, darf man auf den gesamten Inhalt des Buches gespannt sein. Doch nicht jeder dürfte in einer Zeit, wo viele durch Corona Einkommenseinbußen hinnehmen müssen, die 36 Euro für den dicken Band übrig haben. Aber zum Glück gibt es ja Bibliotheken.
Wie zu erfahren war, sollte bereits im März eine Lesung aus dem Buch in der Buchhandlung Kretschmar stattfinden, was durch Corona jedoch verhindert wurde. Kürzlich hat der Band, der auch Fotos des Bautzeners Jürgen Matschie enthält, den Preis der Stiftung Buchkunst erhalten.