30 Jahre nach der Wende – Diethold Tietz

Wie das alles enden würde, was mit jener denkwürdigen Fernsehübertragung vom 9. November 1989 begann, hätte Diethold Tietz nicht für möglich gehalten. Als Haupttechnologe im VEB RFT Fernmeldewerk bestand seine größte Sorge in jenen Tagen darin, das Werk zu erhalten.  Dadurch hatte er gar keine Zeit, an den Demonstrationen teilzunehmen, die auch in Bautzen Tausende auf die Straßen trieben. Stattdessen führten ihn etliche Dienstreisen nach Berlin. Irgendwann hat sich der Wahl-Bautzener dann auch das Begrüßungsgeld abgeholt, aber im wesentlichen nicht ausgegeben, sondern beiseitegelegt, um sich eventuell im Intershop was zu kaufen. Dass diese keinen langen Bestand mehr haben würden, konnte man zu dem Zeitpunkt ja nicht ahnen. Auf jeden Fall erinnert sich Diethold Tietz mit Grausen daran, dass die Züge in Richtung Hauptstadt in jenen Tagen hoffnungslos überfüllt waren.

Die Wiedervereinigung sieht Diethold Tietz in der Rückschau sehr kritisch. Seiner Ansicht nach hätte sie viel mehr auf Augenhöhe erfolgen müssen. Es hätte das Positive von beiden Seiten mit einfließen müssen. So habe es beispielsweise im Gesundheitswesen der DDR genügend Aspekte gegeben, die bewahrenswert gewesen wären. In den verpflichtenden Reihenuntersuchungen und der Impfpflicht für Kinder kann Diethold Tietz nichts Verwerfliches erkennen. „Ein Contergan-Skandal wie im Westen wäre in der DDR undenkbar gewesen“, sagt er. Und auch das Bildungswesen hatte, abgesehen von der ideologischen Durchdringung, viele lobenswerte Seiten. Nicht umsonst hätten sich die Finnen einiges davon abgeschaut. Auch die Null-Promille Grenze für das Führen von Kraftfahrzeugen hätte Diethold Tietz gerne übernommen.

Diethold Tietz, dem bei seinem Dienstantritt in der RFT eine Neubauwohnung versprochen worden war, die er allerdings erst nach einem Jahr Hotelübernachtung beziehen konnte, war damals glücklich über den Komfort, den die vier Wände im Neubaugebiet Gesundbrunnen ihm boten. Damals habe er rund 9 Prozent seines Einkommens für das Wohnen ausgeben müssen; heute sind es 30 Prozent seiner Rente. Das sei unverhältnismäßig viel.

Eine Sache, die Diethold Tietz in der DDR weniger gefallen hat, war die Mangelwirtschaft. Doch das blanke Gegenteil, die heutige Überflussgesellschaft, sei genauso verwerflich. Ein goldener Mittelweg wäre richtig gewesen. „Wozu brauchen wir zum Beispiel so viele unterschiedliche Automarken und -modelle“, fragt er sich. Und auch wenn die Deutsche Reichsbahn ihren Kunden nicht gerade den blanken Luxus bot, der Güterverkehr wurde in der DDR hauptsächlich auf der Schiene abgewickelt, und das sei sehr gut gewesen.

Ein wunder Punkt sei natürlich die Reisefreiheit gewesen. Wie gerne hätte sich Diethold Tietz beispielsweise Gemäldegalerien in aller Welt angeschaut. Wenn man die DDR-Bürger hätte freier reisen lassen, die meisten wären auch wieder zurückgekommen, das habe man ja an den Rentnern gesehen. Die meisten hätten von der Reisefreiheit geträumt, doch für viele bleibt das Reisen auch weiterhin nur ein Traum, weil ihnen die finanziellen Mittel fehlen.

Beide Teile Deutschlands bekamen irgendwann ein Arbeitskräfteproblem. Doch wie dies in der DDR gelöst wurde, hat Diethold Tietz besser gefallen. „Bei uns gab es Vertragsarbeiter, während man im Westen von Gastarbeitern sprach“, sagt er. Die Vertragsarbeiter erhielten in der DDR eine gute Ausbildung oder studierten und kehrten dann mit ihrem Wissen und ihren Fertigkeiten in die Heimatländer zurück, um bei deren Aufbau zu helfen. Das sei eine gute Lösung gewesen und Solidarität kein leeres Wort. „Solche fleißigen Menschen wie die Vietnamesen habe ich selten kennengelernt“, sagt Diethold Tietz. Deshalb wird er auch fuchsteufelswild, wenn Zeitgenossen die freundlichen Asiaten als „Fidschis“ abqualifizieren. Der nicht adäquate Umgang mit den Gastarbeitern im Westen habe unter anderem zu dem Problem der Clan-Kriminalität geführt, dem man heute kaum noch Herr wird. Auch Drogen-Missbrauch und damit einhergehend die Beschaffungskriminalität sei in der DDR ein Fremdwort gewesen.

Diethold Tietz hat in den Jahren des Kampfes um den Erhalt des Fernmeldewerkes viele verschiedene „Herren“ kommen und gehen sehen, die Bautzen mehr oder weniger wohlgesinnt waren. Letztlich ist er dann in der dritten Entlassungswelle seinen Job auch losgeworden. Nach einem sogenannten Übergangsgeld ist er mit 62 in die Frührente gegangen. Damals habe man noch nicht überblicken können, welches finanzielle Minus das bringt. Zum Glück bekomme er aber noch eine steuerfreie Unfallrente, die auf eine Verletzung zurückzuführen ist, die er sich bei der NVA zuzog.

Heute ist Diethold Tietz vor allem das „Gesicht“ des Sprachrettungsklubs. Zusammen mit Gleichgesinnten wandte er sich vor allem gegen Sprachschludereien, die der Westen den Ostlern übergestülpt hatte. Aber auch den Kampf gegen das allgegenwärtige „Denglisch“ führten die Sprachretter mit einigem Erfolg. Als Bürgerinitiative gegründet, schlossen sich die Bautzener später dem Verein Deutsche Sprache an und bilden heute eine der aktivsten Regionalgruppen. Auf seine Fahne und die von einigen seiner Mitstreitern schreibt sich Diethold Tietz auch die Tatsache, dass der Rietschelgiebel heute hinter Glas im Burgtheater öffentlich zugänglich ist und nicht hinter Museumsmauern verschwand.

Unterm Strich findet Diethold Tietz, dass die Wiedervereinigung eher ein Beitritt war, oder, besser gesagt: „Wir sind beigetreten worden“. Eine wirkliche Wiedervereinigung sieht er erst in weiteren 30 Jahren kommen. „Dann hat die Zeit gearbeitet“, sagt er.

Für die Zukunft wünscht sich Diethold Tietz , dass Bautzen auf dem Weg zu einer liebens- und lebenswerten weltoffenen Stadt weiter vorankommt. Das setze voraus, dass sich die schweigende Mehrheit der Bautzener Bürger mehr als bisher mit Sachlichkeit und Diskussionskultur gegen die Totschlag“argumente“ böswilliger linker wie rechter Wortführer durchsetzt.