Rede von Oberbürgermeister Dirk Hilbert zum Auftakt Menschenkette Gewandhausareal, Neumarkt am 13. Februar 2020, 17 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren,
verehrte Gäste,
liebe Dresdnerinnen und Dresdner,
Danke, dass Sie heute hier auf den Neumarkt gekommen sind. Hier
vor der Frauenkirche wollen wir uns erinnern. Wir erinnern an den
13. Februar 1945, den Tag, an dem tausende Menschen den Bomben
in unserer Stadt zum Opfer fielen und große Teile Dresdens zerstört
wurden. Aber unsere Erinnerung geht darüber hinaus. Sie muss,
gerade heute am 75. Jahrestag, darüber hinaus gehen.
75 Jahre vor dem Jahr 1945 standen die Zeichen in Europa auf Krieg.
Frankreich und Deutschland rangen um die Vorherrschaft in Europa.
Im Sommer 1870 machten beide Seiten mobil. Im DeutschFranzösischen Krieg starben fast 200 000 Soldaten auf beiden Seiten.
In diesem Jahr wurde Paul Büttner in Dresden in einfachen
Verhältnissen geboren. Schon mit acht Jahren erhielt er ViolinenUnterricht und komponierte. Früh trug er nach dem Tod seines
Vaters die Verantwortung, die Familie zu ernähren und spielte in
verschiedenen Orchestern. Er erhielt eine Anstellung am Dresdner
Konservatorium, dessen künstlerischer Direktor er später wurde.
– 3 –

Während des Ersten Weltkrieges lebte Büttner für die Musik, schrieb
für die Dresdner Volkszeitung als Kritiker und komponierte zahlreiche
Werke. Paul Büttner erlangte vor allem durch sein Wirken als
Bundesdirigent des Arbeitersängerbundes Bedeutung über die Stadt
hinaus.
Er war Sozialdemokrat und hatte eine jüdische Ehefrau. Mit der
Machtergreifung der Nationalsozialisten veränderte sich sein Leben
schlagartig. Er wurde all seiner Ämter enthoben.
Fortan lebte er als Komponist, dessen Werke nicht aufgeführt
werden durften. Er musste hinnehmen, dass seine Wohnung
regelmäßig durchsucht und seine Frau wegen ihres Glaubens
schikaniert wurde. Zum zweiten Mal in seinem Leben brachte ein
Weltkrieg Tod, Hass und Not über seine Heimat. 1943 starb Paul
Büttner. Die Zerstörung seiner Heimatstadt 1945 musste er nicht
miterleben.
Am 14. Februar 1945 wurde Stephan Timmroth in Dresden geboren.
Seine Mutter musste mit dem neugeboren Jungen vor den Flammen,
die die Innenstadt erfasst hatten, fliehen. Er wuchs in einer
zerstörten Stadt auf, half beim Wiederaufbau und arbeitete als
Polizist. Später studierte Stephan Timmroth Psychologie und
arbeitete mit geistig behinderten Menschen. In einem ZeitzeugenInterview sagte Herr Timmroth vor wenigen Wochen:
– 4 –

„Die Idee, noch einmal einen Krieg zu erleben, die ist für mich so
abwegig. Wir haben 75 Jahre keinen Krieg erlebt. Wir können doch
von Glück reden! Ja wir haben während der Wende auch unsere
schlechten Erlebnisse gehabt, aber wir mussten keinen Krieg
erleben.“
Meine Damen und Herren,
1945 erblickten in Dresden 4.639 Kinder das Licht der Welt. Diese
Menschen können heute, 75 Jahre später, von sich sagen: „Unsere
Kinder und Freunde starben nicht auf dem Schlachtfeld eines Krieges.
Wir mussten nicht jede Sekunde um unsere jüdischen Ehefrauen
bangen. Unsere Stadt wurde nicht in Schutt und Asche gelegt.“
Das unterscheidet das Leben von Paul Büttner und seiner Generation,
von dem Leben, das Stephan Timmroth führen konnte. Alles
selbstverständlich? Nein. Wir schenken dem, was nicht geschehen ist
viel zu wenig Aufmerksamkeit.
1945 begann für Deutschland und Mitteleuropa eine lange Phase des
Friedens. Wer in Deutschland und Mitteleuropa 1945 geboren wurde,
der hat sein gesamtes Leben lang keinen Krieg unmittelbar in seiner
Heimat erleben müssen. Dennoch ist Krieg allgegenwärtig. In den
Nachrichten, in Filmen und Videospielen, in unserer Sprache. Wir
– 5 –

spüren die Auswirkungen von Kriegen – ob durch Flüchtlinge aus
Kriegsgebieten, ob durch gestiegene Preise an der Zapfsäule oder
Arbeitsplätze in der Waffenindustrie.
Trotz alledem: Die Vorstellung eines bewaffneten Konflikts in der
Mitte Europas ist 30 Jahre nach dem Ende des „Kalten Krieges“ völlig
aus unserem Denken verschwunden. Und mit dieser fehlenden
Vorstellung von Krieg scheinen die Ursachen von bewaffneten
Konflikten wieder Konjunktur zu haben: Nationalismus, Rassismus,
Separatismus, religiöser Fanatismus.
Katalonien und Brexit, Krim und Libyen, Terror, die Handelskriege
und die Klimakatastrophe sind nur einige Krisen unserer Zeit, die in
einem historischen Kontext betrachtet, die Saat des Krieges in sich
tragen.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
ich freue mich auf Ihre anschließenden Gedenkworte und danke
Ihnen dafür, was Sie in der Gedenkstätte Yad Vashem gesagt haben.
Ja, Erinnern macht uns nicht immun gegen das Böse. Das gilt gerade
auch für Dresden. Wir haben erlebt, wie die Erinnerung an das
Sterben und Leiden am 13. Februar ´45 überprägt wurde von
Deutungen, die neuen Hass schüren. Der „Mythos Dresden“, zuerst
– 6 –

propagiert von Nazis und übernommen in eine sozialistische
Erinnerungskultur, diente als Propagandawaffe im Kalten Krieg. In
den 1990er und 2000er Jahren machten Neonazis sich den „Mythos
Dresden“ zu eigen und nun war eines endgültig:
Gedenken scheitert, wenn ihm kein Nachdenken zugrunde liegt und
ihm kein Weiterdenken folgt.
Deshalb müssen wir darüber nachdenken, in welchem historischen
Zusammenhang der 13. Februar 1945 steht.
Deshalb müssen wir weiterdenken, um auch unseren Kindern ein
Leben im Frieden zu sichern.
Diese Aufgaben nimmt uns niemand ab und wir dürfen sie auch
niemals aus der Hand geben! Schlussstriche kann nur ziehen, wer
verstanden hat. So weit sind wir alle nicht.
Genau das lernen wir in Dresden.
Der 13. Februar fordert uns alle heraus, die wir für Menschlichkeit,
Friedfertigkeit und Demokratie einstehen. Die Debatte um das
Gedenken an ein so schreckliches wie widersprüchliches Ereignis darf
– 7 –

nicht den Rändern überlassen werden, sondern muss aus der Mitte
der Gesellschaft kommen.
Das strengt an. Aber wir haben es gemeinsam geschafft, mit der
Menschenkette seit zehn Jahren ein kraftvolles Zeichen zu setzen.
Menschen unterschiedlicher Herkunft, Milieus, Religion oder
politischer Ansichten umschließen schützend den Stadtkern und
stehen zusammen: im Erinnern an das Geschehene, im Engagement
für Frieden, Demokratie und Menschenrechte, im friedlichen
Widerstand gegen jede Form von Gewalt.
Lieber Herr Professor Müller-Steinhagen,
im Namen der Stadt Dresden und auch ganz persönlich möchte ich
Ihnen Danke dafür sagen, dass Sie Jahr für Jahr als Anmelder der
Menschenkette Verantwortung für unsere Stadt übernommen haben
und auch heute übernehmen.
Das Schlimmste, was wir Dresdnerinnen und Dresdner uns vorstellen
können, ist, dass unsere Stadt erneut zerstört wird. Dann freuen wir
uns doch daran, dass dies 75 Jahre lang nicht passiert ist! Und setzen
wir uns gemeinsam dafür ein, dass dies auch in Zukunft nicht
passiert! Lassen Sie uns:
– 8 –

Nicht vergessen. Nicht vergessen, wie viel Leid der 13. Februar
Dresden zufügte und welche Narben er hinterließ.
Nicht kleinreden. Nicht kleinreden, wie groß der Rückhalt für den
Nationalsozialismus in Dresden war und wie viele Dresdner das
menschenverachtende System aktiv unterstützten.
Nicht nachlassen. Nicht nachlassen, ein Erinnern zu pflegen, das
ehrlich und wahrhaftig die Komplexität des Tages fasst. Zur
Gedenkveranstaltung im Kulturpalast ermutigte uns Bundespräsident
Steinmeier diesen Weg weiter zu verfolgen. Er sagte: Sowohl
diejenigen, die deutsches Unrecht kleinreden, als auch diejenigen, die
die Bombardierung als „gerechte Strafe“ hinstellen, werden der
Geschichte nicht gerecht.
Nicht weghören. Nicht weghören, wenn Menschen wegen ihrer
Hautfarbe, ihres Glaubens, ihres Geschlechts oder ihrer Lebensweise
angefeindet werden.
Nicht wegschauen. Nicht wegschauen, wenn sich heute Extremismus
und Hass in unserer Gesellschaft breitmachen, wie zum Beispiel am
kommenden Sonnabend zu erwarten, wenn wieder eine Gruppe
durch die Stadt ziehen will, die absolut nichts von Dresdens
Geschichte und den Menschen, die hier lebten und leben, verstanden
– 9 –
hat. Lassen Sie uns auch am 15. Februar ein friedliches Zeichen gegen
Nationalismus und Rassismus setzen!
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir stehen hier im Herzen der wieder aufgebauten Altstadt, am Fuße
der Frauenkirche. Blicken Sie kurz nach oben.
Dort oben auf der Kuppel sehen sie das Turmkreuz. Es wurde
gefertigt vom Sohn eines britischen Piloten, der vor 75 Jahren mit
seinem Bomber Tod und Zerstörung über Dresden brachte.
Wenn Dresdens Schicksal als einzigartig bezeichnet werden kann,
dann deshalb, weil die Stadt ein Ort der Versöhnung ist. Kein anderes
Zeichen darf von Dresdens Straßen ausgehen.
Auch im Jahr 2020 werden wieder rund 5 000 Kinder in Dresden
geboren werden. Es liegt auch in unserer Hand, welcher Lebensweg
vor diesen Mädchen und Jungen liegen wird. Werden Sie wie Paul
Büttner Krieg und Verfolgung erleben müssen? Oder wie Stephan
Timmroth ein Leben in Frieden?