Website-Icon Ostsachsen-TV.com

Mata Hari – Der letzte Morgen einer unschuldigen „Spionin“

Mata Hari.png

Mata Hari.png

Wie Frankreich 1917 eine Frau erschoss und einen Mythos erfand

Ein historische Reportage – von Andreas Manousos

 

Der Morgen ist kalt über Vincennes. Es ist der 15. Oktober 1917, kurz nach fünf Uhr. In der Pariser Frauenhaftanstalt Saint-Lazare öffnet sich eine Zellentür. Eine Wärterin, ein Militärarzt, ein Untersuchungsrichter, ein Priester, zwei Nonnen. Und auf dem Bett: eine Frau, die noch schläft.

„Sie schlief ruhig, ein ungestörter Schlaf“, wird der britische Reporter Henry Wales später schreiben. Es ist der letzte Schlaf der Frau, die eine ganze Welt bald nur noch unter einem Namen kennen wird: Mata Hari. Geboren als Margaretha Geertruida Zelle, Tänzerin, Geliebte, Projektionsfläche einer hysterischen Kriegszeit – und Sündenbock.

Sie fährt hoch, als man sie weckt. Kein Wimmern, kein Hysterieanfall. Ihr erster Satz: „Darf ich zwei Briefe schreiben?“ Der Untersuchungsrichter erlaubt es. Sie sitzt auf der Bettkante, schreibt hastig, zwei Abschiedsbriefe, die bis heute verschollen sind.

Dann beginnt ihr letztes Ankleiden: schwarze, seidene Strümpfe, hochhackige Schuhe, ein schwerer dunkler Mantel mit Pelzbesatz, darüber ein großer schwarzer Filzhut. Le Petit Parisien, das große Abendblatt von Paris, wird am nächsten Tag notieren, sie habe „ruhig“ reagiert, ihre Toilette sei „rasch beendet“ gewesen, sie habe den dunklen Stoffmantel mit Pelz, dazu einen großen Filzhut getragen. Kein Theater, keine Pose. Nur Sorgfalt. Eine Frau, die weiß: Das ist ihr letzter Auftritt vor Publikum.

Am Gefängnishof wartet ein Militärwagen. Neben ihr: ihr Anwalt Édouard Clunet, ein Offizier, ein Priester, zwei Ordensschwestern. Die Stadt schläft noch, als der Wagen durch das dunkle Paris zum Schießplatz im Fort de Vincennes fährt. Frankreich ist kriegsmüde, zerrüttet von Millionen Toten und Meutereien – und braucht dringend einen Schuldigen.

Auf dem Exerzierplatz stehen schon die Soldaten. Zwölf Mann, ZOUAVEN, junge Gesichter, viele noch halbe Kinder. Hinter ihnen ein Unteroffizier mit gezogener Waffe. Der Platz ist kahl, eine niedrige Erderhöhung bildet den Hintergrund – dahinter fängt der Wald an.

Mata Hari steigt zuletzt aus dem Wagen. Eine Nonne bietet ihr den Arm; sie lehnt nicht ab, aber sie stützt sich nicht. Mehrere Augenzeugen berichten dasselbe: Sie geht aufrecht, langsamen, sicheren Schrittes.

Ein Offizier tritt mit einem weißen Tuch heran. „Die Augenbinde“, flüstert er den Schwestern zu.

„Muss ich das tragen?“, fragt sie ihren Anwalt.

Henry Wales beschreibt die Szene so: Clunet schaut fragend zum Offizier, der kurz zögert und dann sagt: Wenn Madame es vorzieht, „macht es keinen Unterschied“.

Mata Hari entscheidet: Sie will den Tod sehen. Sie verzichtet auf die Binde. Auch die Hände werden ihr nicht gefesselt. Sie steht frei, ungebunden, vor den Gewehren.

Der Gerichtsschreiber verliest das Urteil: Tod durch Erschießen, wegen Spionage für den Feind. Es sind Worte, in denen sich mehr politische Verzweiflung als juristische Wahrheit sammelt. Die Akten, die hundert Jahre später geöffnet werden, werden zeigen: Es gab keine belastbaren Beweise, nur Funkmeldungen der Deutschen, die bewusst in einem Code gesendet wurden, von dem man wusste, dass die Franzosen ihn lesen konnten – eine „Falle“, in der eine Frau zum idealen Sündenbock wurde.

Der Priester spricht leise mit ihr. Was genau er sagt, kennen wir nicht. Aber mehrere Berichte stimmen in einem Punkt überein: Sie bricht nicht zusammen. Kein Weinen, kein Flehen. Wales notiert ihren schlichten Satz: „Ich bin bereit.“

Es ist der zweite und letzte Moment, in dem sie an diesem Morgen selbst das Drehbuch übernimmt. Das erste Mal war es, als sie zwei Briefe verlangte. Das zweite Mal, als sie den Männern gegenübertritt, die sie töten sollen.

Die zwölf Soldaten nehmen Gewehr bei Fuß. Einige wirken nervös, einer zittert. Vor ihnen steht keine feindliche Uniform, sondern eine Frau, die aussieht wie jede wohlhabende Pariserin – nur mit einem anderen Ruf.

Sie stellt sich nicht seitlich, sie dreht ihnen das Gesicht zu. Sie will sie ansehen. Sie will, dass sie sie ansehen.

Einige Versionen – vor allem Wales’ Bericht – sprechen von einem letzten Gestus: einem Kuss, den sie mit der Hand in Richtung der Schützen schickt. Ob dieser Kuss exakt so stattfand, wissen wir nicht mit letzter Sicherheit. Sicher ist: Bis zum letzten Moment stand sie aufrecht, ohne Augenbinde, den Blick auf die Männer gerichtet, die abdrückten.

Der Unteroffizier hebt den Säbel. Ein kurzes Kommando. Zwölf Gewehre gehen an die Schulter. Ein zweites Kommando. Die Luft wird dünn.

Der Säbel fällt. Die Salve bricht los.

Wales beschreibt, dass sie nicht theatralisch nach hinten schleudert, nicht mit den Armen rudert, sondern langsam „zusammensinkt“, zuerst auf die Knie, den Kopf noch erhoben, mit unveränderter Miene – und dann nach hinten kippt, die Beine unter dem Körper.  Es ist ein nüchterner, fast grausam sachlicher Satz. Vielleicht deshalb so unerträglich.

Ein Leutnant und ein Unteroffizier treten vor. Der Unteroffizier zieht seine Dienstpistole, setzt sie fast – aber nicht ganz – an ihre Schläfe und gibt den Gnadenschuss ab. Die Szene ist in den französischen und britischen Berichten identisch: Ein Schuss in den Kopf, dann Stille.

Niemand tritt hervor und reklamiert den Körper. Keine Familie, kein Liebhaber, keine offizielle Delegation aus ihrem Heimatland. Frankreich hat bekommen, was es wollte: eine hingerichtete „gefährliche Spionin“, deren Tod man in den Zeitungen der Welt als Akt der Notwehr verkaufen kann.

Was mit ihr geschieht, ist entwürdigend und bezeichnend zugleich: Nach einem „Scheingrab“ wird ihr Leichnam an die Pariser medizinische Fakultät übergeben – als Übungsobjekt für Studenten.  Ihr Kopf, für anatomische Zwecke konserviert, verschwindet irgendwann aus dem Musée d’Anatomie. Als man Jahrzehnte später nachfragt, ist er „nicht mehr auffindbar“.

So endet der Körper einer Frau, die in ihrem Leben jede Rolle gespielt hat, die Männer von ihr verlangten – und die doch im entscheidenden Moment eine Haltung zeigt, an der die Männer vor ihr und hinter den Gewehren moralisch scheitern.

Die Legende der geheimnisvollen Spionin wird weiterleben. Die Akten, die die Wahrheit enthalten, bleiben verschlossen – bis 2017. Als man sie öffnet, steht darin nicht das Bild einer hochgefährlichen Meisteragentin, sondern das einer naiven, überschuldeten, zwischen allen Fronten manipulierten Frau, deren „Spionage“ sich in belanglosen Plaudereien und schlecht honorierten Angeboten erschöpfte. Jede militärisch relevante Information fehlte.

Aber da ist sie schon hundert Jahre tot. Und Frankreichs Schützen haben ihren Job längst erledigt.

 

Die Biographie hinter Mata Hari

Margaretha Geertruida Zelle wird am 7. August 1876 im niederländischen Leeuwarden geboren, als Tochter eines wohlhabenden Hutmachers. Ihre Kindheit ist zunächst gesichert, bürgerlich, unauffällig. Dann bricht alles weg: Der Vater geht bankrott, die Eltern trennen sich, die Mutter stirbt früh, die Familie zerfällt. Aus dem Mädchen aus der besseren Stube wird in wenigen Jahren eine junge Frau ohne Schutznetz.

Mit 18 heiratet sie den 21 Jahre älteren niederländischen Kolonialoffizier Rudolf MacLeod. Die Ehe führt sie in die Niederländisch-Indien, nach Java und Sumatra – und in eine Hölle aus Alkohol, Gewalt und Demütigung. Zwei Kinder werden geboren, eines stirbt früh, vermutlich nach einer Vergiftung; ob Unfall, Krankheit oder etwas Schlimmeres, bleibt ungeklärt. Die Ehe wird zum Trauma. 1902 trennt sie sich, kehrt mit der Tochter nach Europa zurück, der Mann behält am Ende auch dieses Kind. Sie steht wieder allein da – ohne Ausbildung, ohne Vermögen, ohne Familie.

In Paris erfindet sie sich neu. Sie wird Modell, dann Mätresse, dann „exotische Tänzerin“. Den Namen Mata Hari – malaiisch für „Auge des Tages“, also Sonne – wählt sie selbst. Sie behauptet, die heilige Tochter eines indischen Brahmanen zu sein, im Tempel in geheimen Riten unterwiesen. Nichts davon stimmt, aber Europa will diese Lüge hören. Sie tanzt halb nackt in Museen, Theatern, Salons. Zeitgenössische Kritiken feiern weniger ihre Technik als die Provokation: eine Frau, die ihren Körper zeigt und die männlichen Fantasien steuert, statt ihnen ausgeliefert zu sein.

Der Ruhm ist groß, aber kurz. Mit dem Aufkommen der Ballets Russes verliert ihr „Orient-Programm“ an Reiz. Sie lebt über ihre Verhältnisse, sammelt Liebhaber aus Militär, Diplomatie, Industrie – in Berlin, Wien, Madrid, Paris. Als der Erste Weltkrieg beginnt, wird diese „Kosmopolitin“, diese unabhängige, sexuell freie Frau zum idealen Verdachtsfall in einer Zeit, in der jede Grenze zur Schusslinie wird.

Die deutsche Abwehr wirbt sie 1915/16 tatsächlich lose an, gibt ihr Geld, den Decknamen H 21 und vage Aufträge. Gleichzeitig versucht der französische Geheimdienst, sie als Quelle auf deutsche Offiziere anzusetzen. Sie spielt, in ihrer Vorstellung, ein gefährliches Spiel – aber ohne Technik, ohne konspirative Ausbildung, ohne Verständnis für militärische Geheimnisse. Ihre „Informationen“ bestehen im Kern aus Gesprächen über Truppenmoralen, Offiziersstimmungen, Beobachtungen, die auch in Zeitungen nachzulesen wären. Historikerinnen wie Julie Wheelwright und Pat Shipman kommen nach Sichtung der Akten übereinstimmend zu dem Befund: militärisch wertlos.

Der entscheidende Schlag gegen sie kommt nicht aus einem Geheimtreffen, sondern aus dem Äther: Französische Funker fangen in Madrid Funksprüche der deutschen Abwehr über eine Agentin H 21 ab. Die Deutschen nutzen bewusst einen Code, von dem sie wissen, dass die Franzosen ihn längst gebrochen haben – ein Hinweis darauf, dass Mata Hari für Berlin bereits als verbrannt oder nutzlos galt. In den Chiffren steht genug Biographisches, dass die französische Gegenspionage sie eindeutig identifizieren kann. Damit ist sie politisch perfekt verwertbar: eine ausländische, freizügige, „unmoralische“ Frau, die man nun zur „größten Spionin des Jahrhunderts“ aufblasen kann.

Ihr Prozess vor dem 3. Kriegsgericht in Paris im Juli 1917 ist eine Farce: keine materiellen Beweise, keine abgefangenen eigenen Botschaften, keine Zeugen, die konkrete Spionagehandlungen gesehen hätten. Ihr Verteidiger Clunet darf Belastungszeugen nicht wirksam befragen, entlastende Hinweise werden unterdrückt. Der Untersuchungsrichter Bouchardon und der Staatsanwalt zeichnen sie als moralisch verkommene Frau, deren angebliche Spionage fast schon aus ihrer Sexualität abgeleitet wird. Später freigegebene französische Militärakten und Auswertungen westlicher wie auch kritischer Historiker zeigen, dass es keinen harten Beweis dafür gibt, dass sie auch nur eine einzige militärisch relevante Geheimnisweitergabe vollzogen hat, geschweige denn „den Tod von 50.000 Soldaten“ verursacht habe, wie die Anklage damals fabulierte.

2017, hundert Jahre nach ihrer Hinrichtung, werden über 1.200 Seiten französischer Militärdossiers vollständig freigegeben. Die CIA wertet bereits in den 1980ern freigegebene Dokumente so, dass Mata Hari „hineingelegt“ und als Bauernopfer benutzt wurde; der Washington Post-Artikel „Mata Hari was framed, files show“ fasst diese Sicht zusammen. Pat Shipman, die wohl gründlichste moderne Biografin, sagt im Reuters-Interview: „Die Beweise sind sehr stark, dass sie vollkommen unschuldig an Spionage war.“Smithsonian Magazin+3CIA+3p2k.stekom.ac.id+3

Juristisch bleibt sie bis heute verurteilt, eine Revision ihres Urteils wurde 2001 in Frankreich abgelehnt. Moralisch und historisch aber ist das Bild klar: Mata Hari war keine „Meisterspionin“, sondern eine unvorsichtige, überschuldete, von beiden Seiten benutzte Frau, die in einem Moment nationaler Hysterie zum Symbol für Verrat gemacht wurde – weil sie als unabhängige, sexuelle, ausländische Frau all das verkörperte, was ein kriegsmüdes, patriarchales System nicht mehr ertragen konnte.

Ihr letzter Morgen in Vincennes ist deshalb mehr als eine Hinrichtung. Er ist das Protokoll einer organisierten Ungerechtigkeit – und der seltenen Würde einer Frau, die in dem einzigen Moment, in dem ihr gar nichts mehr gehörte, wenigstens über eine Sache selbst entschied: über die Art, wie sie angesehen werden wollte, als man auf sie zielte.

Quellenverzeichnis (Auswahl wichtiger Primär- und Referenzquellen)

https://www.servicehistorique.sga.defense.gouv.fr/dossier-individuel/mata-hari
https://www.servicehistorique.sga.defense.gouv.fr/liste-dossiers-individuels/mata-hari
https://www.histoireetpatrimoinedu12.fr/file/si2028073/download/Il%20e%CC%81tait%20une%20fois%20dans%20le%2012e%20n%C2%B010%20version%20de%CC%81finitive%20Une%20espionne%20fusille%CC%81e%2015101917-fi36202678.pdf
https://cdn.nationalarchives.gov.uk/documents/filesonfilm/mata-hari-alias-mcleod-margaretha-geertruida-marguerite-gertrude-kv-2-1.pdf
https://guides.loc.gov/chronicling-america-mata-hari
https://library.georgetown.edu/special-collections/manuscripts/letters-mata-hari
https://www.paperlessarchives.com/mata-hari-historical-documents.html
https://www.francearchives.gouv.fr/fr/pages_histoire/26288138
https://www.friesmuseum.nl/en/collection/icons/mata-hari
https://historischcentrumleeuwarden.nl/images/Publiek/Stadswandelingen-PDF/Traces-of-Mata-_Hari-samengevoegd.pdf
https://www.emersonkent.com/history_notes/mata_hari.htm
https://www.nationalgeographic.com/history/history-magazine/article/mata-hari-history-killing
https://www.smithsonianmag.com/smart-news/revisiting-myth-mata-hari-sultry-spy-government-scapegoat-180967013/
https://www.cia.gov/readingroom/docs/CIA-RDP90-00965R000100120015-5.pdf
https://www.cia.gov/readingroom/print/1896393
https://www.history.com/articles/the-exotic-dancer-who-became-wwis-most-notorious-spy
https://www.retronews.fr (für Digitalisate u. a. von „Le Petit Parisien“, 16.10.1917)
https://www.eyewitnesstohistory.com/matahari.htm
https://inteltoday.org/2021/07/25/on-this-day-french-military-government-finds-mata-hari-guilty-of-espionage-july-25-1917-was-she-really-guilty/
https://en.wikipedia.org/wiki/Mata_Hari
https://fr.wikipedia.org/wiki/Mata_Hari
https://de.wikipedia.org/wiki/Mata_Hari

 

Die mobile Version verlassen