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Marie Curie – Die Frau, die das Unsichtbare sichtbar machte und die Welt veränderte

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Drei Curies, vier Nobelpreise – ein Vermächtnis, das die Moderne prägte

Eine postmortale Laudatio von Andreas Manousos, Ostsachsen TV – Serie „Große Frauen der Wissenschaft“

Anfänge und Widrigkeiten
Geboren als Maria Skłodowska im von Russland beherrschten Warschau, wächst Marie Curie in einer Welt auf, in der Frauen systematisch vom Studium ausgeschlossen sind. Sie lernt im Geheimen an „fliegenden Universitäten“, verdient Geld als Gouvernante, spart jeden Franc – und bricht nach Paris auf. Dort, an der Sorbonne, erarbeitet sie sich mit eiserner Disziplin zwei Abschlüsse und einen Platz im Labor. Die Bedingungen sind hart: feuchte Schuppen statt moderner Labore, Tonnen von Pechblende, die sie mit bloßen Händen rührt und auskocht, um Spuren neuer Elemente herauszuschälen. Das ist kein romantisches Forscherklischee, sondern Schwerstarbeit – körperlich wie geistig.

Die Entdeckungen: Polonium, Radium und eine neue Wissenschaft
Gemeinsam mit Pierre Curie macht Marie das, was die Wissenschaft ihrer Zeit noch nicht kannte: Sie benennt und vermisst das Phänomen der Radioaktivität, isoliert Polonium (benannt nach ihrer polnischen Heimat) und Radium. 1903 erhält sie dafür zusammen mit Pierre und Henri Becquerel den Nobelpreis für Physik. 1911 folgt der Nobelpreis für Chemie – für die Isolierung von Radium und die Etablierung der Radioaktivitätsforschung. Bis heute bleibt Marie Curie die einzige Person, die Nobelpreise in zwei verschiedenen Naturwissenschaften trägt.

Becquerel – der Auslöser, der zur Einheit wurde
Ohne Henri Becquerels Zufallsfund von 1896 – die spontane Strahlung des Urans – gäbe es keine Curie’sche Revolution. Zu Ehren des Entdeckers heißt die Einheit der Aktivität heute Becquerel (Bq): ein Zerfall pro Sekunde. Was als beobachtete Besonderheit begann, formt Marie Curie zur präzisen Wissenschaft; aus einer Verwunderung wird ein ganzes Forschungszeitalter.

Einstein, Anerkennung und Gegenwind
Albert Einstein schätzte Marie Curie außerordentlich – fachlich wie menschlich. Er verteidigte sie, als Neid, Fremdenfeindlichkeit und Sexismus sie in der Pariser Öffentlichkeit trafen. Die französische Akademie der Wissenschaften verwehrte ihr trotz Weltruhms den Sitz; Boulevardblätter skandalisierten ihr Privatleben. Marie Curie blieb unbeirrbar, weil sie von der Sache überzeugt war: Erkenntnis vor Ansehen.

Dienst an der Menschlichkeit: Die „petites Curies“
Als 1914 der Krieg Europa verheert, organisiert Marie Curie mobile Röntgeneinheiten – die „petites Curies“. Sie richtet Radiologie-Stationen ein, bildet Sanitäterinnen aus (darunter ihre Tochter Irène) und rettet zahllosen Verwundeten durch schnelle Diagnostik Leben und Gliedmaßen. Es ist die andere Seite derselben Entdeckung: Wissenschaft im Dienst des Menschen.

Vom Licht zur Schattenseite: Atomkraft und Atombombe
Die Linie der modernen Kernära verläuft klar – und Marie Curie steht am Anfang dieser Kette:

Curie (1898–1911): Radioaktivität als messbare, beherrschbare Größe; Radium und Polonium.

Hahn & Straßmann (1938): Entdeckung der Kernspaltung von Uran in Berlin; theoretisch gedeutet von Lise Meitner und Otto Frisch.

Einstein & Szilard (1939): Warnbrief an Roosevelt; die Möglichkeit einer Kettenreaktion wird politisch relevant.

Manhattan-Projekt (1942–45): Technische Umsetzung – die Atombombe.

Nach 1945: Reaktoren und Atomkraft als „friedliche Nutzung“, medizinische Radioisotope, Diagnostik und Therapie.

Marie Curie selbst arbeitete nie an einer Waffe. Ihr Ziel war Erkenntnis und Heilung. Doch aus den Grundlagen, die sie gelegt hatte, erwuchsen – in späteren Händen – sowohl Segen als auch Schrecken der Kernmoderne.

Irène Joliot-Curie: Die Tochter, die Radioaktivität „herstellbar“ machte
Das vermeintlich „kleine Mädchen“ auf dem Familienfoto von 1902 wurde eine der großen Frauen der Wissenschaftsgeschichte: Irène Joliot-Curie. Zusammen mit Frédéric Joliot-Curie gelang ihr 1934 die Entdeckung der künstlichen Radioaktivität – also die gezielte Erzeugung radioaktiver Isotope durch Teilchenbeschuss. 1935 erhielten beide den Nobelpreis für Chemie. Damit wurde Radioaktivität nicht nur erforscht, sondern technisch verfügbar – eine Schlüsselinnovation für Medizin (Tracer, Diagnostik, Krebstherapie), Forschung und Industrie. Irène war nicht nur Forscherin; sie engagierte sich politisch gegen Faschismus und für Frauenrechte – und steht so zusammen mit ihrer Mutter in einer seltenen Reihe von Wissenschaftlerinnen, die Geschichte formten.

Röntgen und Curie – zwei Wege, eine moderne Medizin
Wilhelm Conrad Röntgen entdeckte die X-Strahlen bereits 1895 – unabhängig von der Radioaktivität. Die Curies bauten nicht auf Röntgen auf; sie folgten Becquerel. Aber in der Praxis ergänzten sich beide Forschungsstränge: Röntgenstrahlen ermöglichten die schnelle Diagnose; radioaktive Isotope und später Radionuklide lieferten Therapie und Tracer. Maries Kriegsdienst mit den „petites Curies“ ist das lebendige Bindeglied dieser zwei Wege.

Der Preis des Genies
Die Arbeit mit strahlenden Substanzen geschah ohne heutigen Strahlenschutz. Laborbücher, Glasgefäße, selbst Maries Notizhefte sind bis heute kontaminiert. 1934 stirbt sie an aplastischer Anämie – wahrscheinlich eine Spätfolge der Strahlenexposition. Sie hatte Ruhm nie gesucht, Patente auf ihre Verfahren bewusst nicht angemeldet, weil Wissen der Menschheit gehören sollte. Diese Haltung macht ihre Größe erst voll sichtbar.

Das Foto von 1902 – ein Monument im Privaten
Ein Vater, eine Mutter, ihre Tochter – Pierre, Marie und Irène. Ein scheinbar alltägliches Familienbild. Doch wer genauer hinsieht, blickt auf ein Vermächtnis, das einzigartig ist: Drei Menschen, vier Nobelpreise, eine Geschichte, die Medizin, Physik und Chemie verändert und das 20. Jahrhundert geprägt hat.

Nachhall: Warum Marie Curie heute größer ist denn je
Marie Curie steht für das, was Wissenschaft sein kann: leidenschaftliche Wahrheitsliebe, praktische Nächstenliebe – und die Bereitschaft, den Preis dafür zu tragen. Ihr Werk öffnete Wege zur Heilung (Radiologie, Nuklearmedizin), zur Energie (Kernkraft) und – in Händen anderer – zur Zerstörung (Atombombe). Diese Ambivalenz kleinzureden, hieße, ihre Größe zu verkennen. Die Größe liegt darin, dass sie den Mut hatte, das Unsichtbare sichtbar zu machen – und der Welt zu überlassen, was sie damit macht.

Pierre Curie – der kongeniale Partner
Ohne Pierre Curie, der 1903 gemeinsam mit Marie Curie und Henri Becquerel den Nobelpreis für Physik erhielt, gäbe es die frühe Curie-Forschung nicht. Er brachte experimentelle Präzision, entwickelte Messmethoden und teilte mit Marie die radikale Hingabe an die Sache. Sein früher Tod 1906 riss eine Lücke, die Marie mit Arbeit, Lehre und neuerlicher Spitzenforschung füllte.

Irène – die große Tochter
Irène Joliot-Curie ist keine Fußnote, sondern eine Säule. Ihre künstliche Radioaktivität machte aus Naturphänomen Technologie. In einer Welt, die Frauen noch immer bremste, wurde sie Professorin, Institutsleiterin, Nobelpreisträgerin – und Vorbild. Zusammen mit Lise Meitner und Rosalind Franklin gehört sie zu den wenigen Großen, die nicht nur in der Forschung brillierten, sondern die Regeln der Zeit sprengten.

Fazit
Ein Foto. Drei Leben. Vier Nobelpreise. Becquerel als Auslöser, Röntgen als paralleler Weg, Einstein als Anwalt und Weichensteller – und in der Mitte Marie Curie, die die Moderne mitgeprägt hat wie kaum ein Mensch. Ihr Vermächtnis ist größer als Ruhm: Es ist die Verpflichtung, Erkenntnis dem Menschen nutzbar zu machen – mit Demut, Maß und Mut.

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