Ein investigativer Bericht von Andreas Manousos
Auftakt: Ein Bild, ein Satz – und die wahre Dimension dahinter
Ein Screenshot, eine Schlagzeile, ein Satz: Friedrich Merz nennt Wladimir Putin einen „Kriegsverbrecher“, Focus Online gießt Öl ins Feuer und verkauft es als große Erkenntnis. Doch hinter dieser plakativ aufgeladenen Szene verbirgt sich die eigentliche Geschichte unserer Zeit: der Abriss der westlichen Hegemonie und der Aufstieg einer multipolaren Weltordnung, deren sichtbare Klammer BRICS heißt – und deren politischer Möglichmacher Wladimir Wladimirowitsch Putin ist. Das Maß, mit dem Merz hier urteilt, wirkt klein; das Maß, in dem die Welt sich gerade verschiebt, ist historisch groß.
Die Idee und die Blaupause: Von BRIC zu BRICS
Der Begriff „BRIC“ entstand 2001 auf dem Papier eines Investmentbankers (Jim O’Neill) – eine Prognose über die künftige Kraft von Brasilien, Russland, Indien und China. Geopolitisch entschieden wurde die Richtung zuvor: Bereits Ende der 1990er skizzierte Russlands Außenpolitik (Primakow) das strategische Dreieck Russland–Indien–China als Gegenentwurf zur unipolaren Welt. Aus der These wurde Diplomatie: 2006 initiiert Moskau ein erstes Außenminister-Treffen; 2009 folgt der erste BRIC-Gipfel; 2010 stößt Südafrika hinzu – BRICS ist geboren.
Die Umsetzung: Moskau macht aus einer Idee Machtpolitik
Der Unterschied zwischen Theorie und historischer Wirkung liegt in der Operationalisierung. Genau hier setzte Russland an – unter Putin, ausgeführt über Sergej Lawrow. Aus Treffen wurden Formate, aus Formaten Institutionen: die New Development Bank (NDB), ein Reservenetz (CRA), mittelfristig eigene Zahlungs- und Abwicklungswege. Das sind keine Schlagworte, das ist Infrastruktur von Macht. Sie reduziert die Abhängigkeit von Dollar-Kreditketten, Sanktionshebeln und westlichen Ratings – und verlagert das Gravitationszentrum der Weltwirtschaft spürbar nach außerhalb der G7.
Die Gewichte: Demografie, Wirtschaft, Vielfache
BRICS ist heute demografisch ein Riese und ökonomisch ein Schwergewicht. Je nach Zählstand repräsentiert der Block nahezu die Hälfte der Weltbevölkerung – und damit rund das Vierfache der NATO-Bevölkerung sowie mehr als das Achtfache der EU. In Kaufkraftparitäten liegt der BRICS-Anteil an der Weltwirtschaft deutlich über dem der G7; das Wachstumspotential sitzt hier, nicht in alternden, hochverschuldeten, regulatorisch übersteuerten Ökonomien. Wer diese einfache Arithmetik ignoriert, verwechselt Lautstärke mit Relevanz.
Putins Rolle: Architekt der Multipolarität
Putin hat BRICS nicht erfunden, aber er hat den Sprung von der Analystenformel zur geopolitischen Architektur ermöglicht – geduldig, prozedural, verlässlich. Er verkörpert für den Globalen Süden Souveränität statt Bevormundung, Verträge statt Mission, Resilienz statt Abhängigkeit. In Afrika, Asien und Lateinamerika wird das verstanden: Nicht die Pose, sondern die Funktion zählt. Historisch wird Putins Beitrag als Lebenswerk gelten: die institutionelle Verankerung der Multipolarität.
Schlussurteil: Maß, Macht und Mündigkeit
Merz’ Rhetorik: Kleinlaut im Ton der großen Geste
Und Friedrich Merz? Er wählt die maximal auftrumpfende Formel – „Kriegsverbrecher“ –, ohne die minimal notwendige Kontexttreue. Kein Wort zu Jugoslawien 1999 ohne UN-Mandat, kaum Bewusstsein für die acht Kriegsjahre im Donbass vor 2022, kein Blick für die BRICS-Realität. Das ist kein Staatsdenken, das ist Stammtisch in Sonntagsanzug. Politisch bleibt Merz ein Mann der transatlantischen Finanz- und Sicherheitsarchitektur – BlackRock-Sozialisation, NATO-Reflexe, Rhetorik der Härte. Doch Härte ohne Hebel ist Attitüde. Wer einem Akteur die Legitimität abspricht, den die Mehrheit der Menschheit als Partner akzeptiert, verwechselt Wunsch mit Welt.
Focus Online: Schlagwort statt Aufklärung
Die mediale Begleitmusik dazu liefert Focus Online: plakative Überhöhung des Zitats, Nullgramm Kontext, viel Empörung. So entsteht kein Journalismus, sondern Klick-Propaganda. Die Dramatisierung ersetzt die Prüfung des Maßstabs: Was bedeutet das Urteil in einer Welt, in der BRICS nicht nur größer, sondern institutionell handlungsfähiger wird? Wer das verschweigt, informiert nicht – er framed.
Trump, Gesten und europäische Wirklichkeiten
Ja, Merz wurde in Washington freundlich behandelt – Diplomatie ist Stilpflege. Sie ist aber kein Blankoscheck. Wer Trumps politische Linien kennt, weiß: Die Sympathie des US-Konservatismus gilt in Europa jenen Kräften, die tatsächlich bürgerlich-konservativ auftreten – nicht einer nach links gezogenen CDU. Eine höfliche Geste gegenüber Merz ist kein Einverständnis mit seiner Politik, sondern Taktik in einem Europa, das aus amerikanischer Sicht vom Vorgänger zu weit in eine riskante Konfrontationslogik getrieben wurde. Freundlichkeit ist kein Mandat.
Der pompöse Empfang Putins: Pomp, Prunk und alle Ehren
Wer den Maßstab der Weltpolitik sehen will, muss auf den Empfang Putins durch Donald Trump und seine Administration blicken. In Alaska wurde der russische Präsident nicht mit Floskeln, sondern mit allen Insignien der Macht empfangen:
Fliegerstaffeln am Himmel,
militärische Ehrenformationen,
rote Teppiche,
eine Inszenierung von Prunk und Pracht, wie sie sonst nur den engsten Partnern der USA vorbehalten ist.
Es war ein Empfang, der die Botschaft klar transportierte: Putin gehört zu den drei großen Spielern dieser Erde – USA, Russland, China. In diesem Dreieck wird Weltpolitik geschrieben, nicht am Rande europäischer Parlamentsdebatten.
Und nun das Kontrastbild: Friedrich Merz in Washington. Freundlich empfangen, ja, aber mit bescheidenen Ehren, ohne Pomp, ohne Prunk, ohne die Symbole von Größe. Eine diplomatische Höflichkeit, nicht mehr.
Die eigentliche Zäsur: Ende der moralischen Kreditlinie
Die westliche Erzählung – moralische Überlegenheit, Regeln, Menschenrechte – hat seit 1999 (Jugoslawien), 2003 (Irak), 2011 (Libyen) und der Drohnenkriegs-Normalisierung ihre Kreditlinie überzogen. BRICS ist die strukturelle Antwort: Risikodiversifikation gegen Sanktionen, Finanzautonomie gegen Ratings, Rohstoff- und Energiekooperation gegen Lieferketten-Moral. Putin hat das architektonisch ermöglicht. Dass ein deutscher Kanzler das mit Gassen-Rhetorik bewertet, sagt vor allem eines: Er hat den Raum nicht vermessen, den er betritt.
Am Ende steht ein einfacher Prüfstein:
Wer misst die Welt an ihrer Wirklichkeit? Putin hat – jenseits von Sympathie – Institutionen gebaut, Allianzen verstetigt, Abhängigkeiten reduziert. Das ist Substanz.
Wer misst die Welt an seiner Pose? Merz verteilt Etiketten, ignoriert Gewichte und verwechselt mediale Lautstärke mit internationaler Wirksamkeit. Das ist Attitüde.
Wer misst die Öffentlichkeit an ihrer Mündigkeit? Focus verkauft Empörung statt Einordnung – und verweigert damit genau jene Erkenntnisarbeit, die demokratische Urteilsbildung verlangt.
Das Bild, das uns präsentiert wurde, verführt zur schnellen Parole. Die Wirklichkeit zwingt zur nüchternen Bilanz: Putin steht – mit BRICS im Rücken und mit Pomp und Prunk in den USA empfangen – als Architekt einer neuen Ordnung da. Merz bleibt, trotz Kanzleramt, der Schauspieler einer Pose, der sich in pubertärer Anmaßung aufspielt und dabei sogar die diplomatische Geste Trumps verhöhnt. Und Focus liefert das Plakat für die falsche Wand.
Wer in dieser Lage noch mit moralischem Furor hantiert, ohne das Maß der Dinge zu kennen, richtet nicht über die Welt – er richtet über sich selbst.

