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Auch das war griechisch!

Rhodopis und das Aschenbroedel.png

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Wie ich – Andreas Manousos – Aschenbrödels antike Spur aufnahm und ein Jahrtausende altes Rätsel löste

Eine investigativ-wissenschaftliche Kulturreportage über Rhodopis, den Pharao und eine Sandale – zwischen Quellenkritik, Erzählkunst und einem heiteren Blick auf die Wiege Europas.

Eine investigativ-wissenschaftliche Spurensuche in der Geschichte des Aschenbrödels – von Andreas Manousos

 

Teaser

Wenn im Advent „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ läuft, denken die wenigsten an Griechen, Hetären, Handelskolonien und philologische Spitzfindigkeiten. Und doch führt die Fährte genau dorthin: zur ältesten bekannten Fassung des Aschenbrödel-Motivs, aufgezeichnet von einem Griechen über eine Griechin – vor über zwei Jahrtausenden, und von mir, einem Griechen, aufgeklärt. Ich habe die Spuren verglichen, die Widersprüche sortiert und das Märchen von seinem Ursprung her neu gelesen.

 

Ergebnis, mit freundlichem Augenzwinkern:  Auch das Aschenbrödel haben die Griechen erfunden! 😄

 

1. Tatort Antike: Eine Sandale, ein Adler, ein König

Die Szene ist so schlicht, dass sie fast modern wirkt: Eine junge Frau badet; ein großer Vogel – in der ältesten Version ein Adler – schnappt sich eine ihrer Sandalen, fliegt nach Memphis und lässt den Schuh dem König in den Schoß fallen. Der Herrscher deutet es als Zeichen, lässt das Land durchsuchen und nimmt die Unbekannte „zur Frau“. Fertig.

Das ist – in ihren harten Konturen – die älteste überlieferte Form jenes Motivs, das wir als Aschenputtel/Aschenbrödel kennen. Aufgeschrieben hat sie der griechische Geograph Strabon im 1. Jahrhundert v. Chr. in seiner Geographika. Strabon zitiert sie ausdrücklich als Erzählung, die man sich in Ägypten „herumzählte“ – keine Chronik, sondern eine Anekdote. In seiner knappen Notiz steht der Satzteil, der das ganze Genre in ein Bild gießt: „…ein Adler raubte eine ihrer Sandalen…“ – und der Rest ist Märchenlogik.¹

Wer das für hübsch, aber belanglos hält, unterschätzt die literarische Sprengkraft solcher Kleinstformen. Aus vier, fünf Sätzen wird über Jahrhunderte eine Erzählfamilie, die halbe Weltliteratur und nicht wenige Filmklassiker prägt. Und genau hier beginnt die investigativ‑historische Arbeit: Was ist an der Anekdote alt, was ist später zugewachsen, wo sind die Fakten, und wo die Erzählkonvention?

 

2. Spurensicherung: Herodot liefert das Faktengerüst

Ein Ermittler sucht die früheste verlässliche Quelle. Die führt zu Herodot, dem „Vater der Geschichtsschreibung“ (5. Jh. v. Chr.). In Historien II, 134–135 erwähnt Herodot eine Frau namens Rhodopis – eine Griechin thrakischer Herkunft, die in der griechischen Handelsniederlassung Naukratis in Ägypten lebte. Sie war, so Herodot, eine Hetäre: gebildet, begehrt, gesellschaftlich versiert, und – entscheidend – sie wurde reich. Sie stiftete einen Zehnt ihres Vermögens in Form eiserner Spieße (Obeloi) dem Heiligtum von Delphi – eine sehr konkrete, fast buchhalterische Notiz. Herodot korrigiert außerdem ausdrücklich einen damals umlaufenden Mythos, Rhodopis habe eine Pyramide gebaut – Unsinn, sagt er sinngemäß, ihr Reichtum reichte bei weitem nicht für solche Monumente.²

Das heißt: Rhodopis ist bei Herodot eine reale Person. Kein Märchen, keine Fee, kein Ball, keine Stiefschwestern, keine Magie. Eine biographische Notiz in einem ansonsten nüchternen Werk über Länder, Sitten, Kulte, Bündnisse. Und nun der entscheidende Schritt: Strabon greift Jahrhunderte später diese Gestalt auf – und literarisiert sie. Die Anekdote mit der Sandale setzt auf die bereits bekannte Figur Rhodopis auf; sie ist nicht die Entdeckung Strabons, wohl aber seine Formung des Erzählstoffs.

 

3. Der Zeuge der zweiten Stunde: Strabon und die Geburt der Sage

Strabon (64/63 v. Chr.–24 n. Chr.) verfasst ein Weltbild in Buchform. Ägypten beschreibt er mit Geographie, Ethnographie, Geschichten. In Buch XVII (Kap. 33) die „Sandalengeschichte“: Eine Frau (später mit dem Herodot‑Material als Rhodopis identifiziert) badet, ein Adler entreißt die Sandale, der König deutet das Ereignis und „nimmt sie zur Frau“. Strabon nennt keinen Pharaonennamen; der römische Autor Aelian (2./3. Jh. n. Chr.) gibt später den Namen Psammetichus (griechisch für Psamtik) an und wiederholt im Wesentlichen das Strabon‑Motiv.³

Die literarische Verschiebung ist offensichtlich: Aus Herodots sozialhistorischer Notiz über eine prominente Griechin in Ägypten wird bei Strabon der mythische Kern einer Aufstiegs‑Erzählung – die Initialzündung des Märchentyps. Dass Strabon die Geschichte ausdrücklich als „fabelhaft“ (θρυλουμένη) markiert, ist kein Zufall: Er trennt Beobachtung und Überlieferung. Für die spätere Rezeption – das ist wichtig – wird diese Trennlinie oft verwischt.

 

4. „Zur Frau genommen“ – und was das in der Antike heißt

Ein kleiner, aber folgenreicher philologischer Punkt: Wenn antike Autoren schreiben, der König „nahm sie zur Frau“, heißt das nicht automatisch „er machte sie zur Königin“. Im Kontext altägyptischer und griechischer Praxis kann es bedeuten: Er nahm sie in den königlichen Haushalt auf – als Gattin, Nebenfrau, Geliebte. Polygyn‑ähnliche Konstellationen waren in Herrscherhäusern keine Seltenheit; die soziale und politische Gewichtung einzelner Frauen am Hof war unterschiedlich. Der Satz bei Strabon belegt also keine Krönung, sondern eine Bevorzugung. Diese Lesart passt nahtlos zu Herodots Bild von Rhodopis als einflussreicher, wohlhabender Frau – und löst zugleich die künstliche Spannung „Hetäre oder Königin?“ in Luft auf.

 

5. Doricha, Rhodopis – und der Bruder der Sappho: die Namensfalle

Eine weitere Tücke: Antike Autoren verwechseln oder variieren mitunter NamenAthenaios (spätes 2./frühes 3. Jh. n. Chr.) unterscheidet zwischen Doricha und Rhodopis; Herodot verknüpft Charaxos, den Bruder der Dichterin Sappho, mit der Freilassung der Rhodopis; Strabon „korrigiert“ Herodot an einer Stelle. Das klingt verwirrend, ist aber typisch für antike Traditionsschichten. Für unsere Erzählspur ist das Ergebnis klar: Es gab diese prominente Griechin in Ägypten. Sie wird in mehreren antiken Texten greifbar – als historische Figur (Herodot), als Anekdotenfigur (Strabon) und als kanonisierte Sage (Aelian).⁴

 

6. Wie aus Geschichte Märchen wird – und wieder zurück

Rhodopis’ Weg von der Realperson zur Erzählfigur zeigt exemplarisch, wie ein Motiv wandert. Der „verlorene Schuh“ (bzw. die Sandale) markiert in Strabons Text die Schwelle: Nicht mehr Herkunft, Tugend oder Stand entscheiden, sondern ein Zeichen. Diese dramaturgische Schlüsselstelle überlebt alle späteren Transformationen: vom griechisch‑ägyptischen Setting über byzantinische und arabische Erzählfelder bis in die europäischen Feen- und Volksmärchen – schließlich zu Perraults „Cendrillon“ (17. Jh.), den Grimmschen Varianten und den modernen Filmfassungen. Sekundärliteratur hat häufig ein „ägyptisches Ur‑Märchen“ behauptet; seriöse Darstellungen betonen dagegen, dass Strabons Notiz keine ägyptische Quelle ist, sondern ein griechischer Bericht über eine in Ägypten umlaufende Geschichte, die auf eine griechische Figur aufgepropft wird. Eine prägnante moderne Auseinandersetzung mit dieser Fehlzuschreibung liefert die World History Encyclopedia; sie zeigt, wie frühneuzeitliche und moderne Nacherzählungen den Stoff weiter romantisieren – bis hin zum Kinderbuch des 20. Jahrhunderts, das aus der Anekdote ein vollständiges Märchen macht.⁵

Man kann – und sollte – daraus zwei Lehren ziehen:

  1. Erzählmuster sind zäh. Ein einziges Motiv reicht, um über Jahrhunderte anpassungsfähig zu bleiben.
  2. Quellenkritik ist Pflicht. Wer Strabon „ägyptisch“ nennt, ohne den griechischen Mediationscharakter zu sehen, reproduziert Mythen – nicht Geschichte.

 

7. Vom Nil bis nach Böhmen – eine Spur über zweieinhalb Jahrtausende

Heute, da ich dies schreibe, ist bald wieder Advent. Bald werden weltweit Abermillionen Menschen dieselbe Geschichte sehen – in Disneys gläserner Variante, im deutschen Aschenputtel der Brüder Grimm und, noch viel inniger, im tschechischen Film Tři oříšky pro Popelku (Drei Haselnüsse für Aschenbrödel).
Seit meiner Kindheit rührt mich Libuše Šafránkovás Blick mehr als jede Disney-Fee. Ich verstehe und spreche die tschechische Sprache und schaue mir alljährlich dieses wundervolle Märchen im Original auf Tschechisch an – auch wenn die deutsche Übersetzung meisterhaft ist.

In meiner Analyse erkenne ich in all diesen Fassungen denselben genetischen Code: das Ur-Motiv der Rhodopis. Perrault ließ im 17. Jahrhundert den Schuh aus Glas werden, die Grimms machten daraus Gold, Vorlíček im Jahr 1973 gab ihm wieder Herz und Ironie – aber der Ursprung liegt im Griechenland des Herodot.

Herodot war kein Märchenerzähler. Seine Rhodopis – ihr Name bedeutet „die Schöne mit dem Rosenblick“ – war eine reale Griechin in Ägypten, eine Hetäre, reich und selbstbestimmt. Und gerade weil ich zeigen konnte, dass sie keine Königin war, sondern eine außergewöhnliche Frau, deren Geschichte später literarisch verfremdet wurde, wird der Zusammenhang umso klarer: Aus der Wirklichkeit einer einzelnen Frau erwuchs ein Märchen, das ganze Generationen verzaubert.

Ich habe also, im besten Sinne, einen kleinen historischen Kriminalfall gelöst. Der „Tatort“ lag im 5. Jahrhundert v. Chr., die Indizien in den Schriften von Herodot und Strabon, das Geständnis in der Logik der Überlieferung.
Und da der historische Ursprung real sein muss, frage ich mich manchmal – mit einem Lächeln – was sich wohl der Adler damals dabei gedacht hat. 😄

Dass ausgerechnet die Griechen, die sonst für Philosophie und Demokratie stehen, auch das Aschenbrödel in die Welt setzten – das ist die ironische Pointe, die mich beim Schreiben schmunzeln lässt.

 

8. Die Methode: Wie investigative Arbeit in historischen Überlieferungen funktioniert

Ich habe diesen Befund nicht durch eine brillante Eingebung gewonnen, sondern durch schlichte, saubere Arbeit am Material. Das Verfahren:

Das ist, in einem Satz, investigative Arbeit in historischen Überlieferungen: beobachten, vergleichen, verifizieren, rekonstruieren.

 

9. Ein Augenzwinkern gehört dazu – warum diese Geschichte Frauen, Männer und Kinder anspricht

Warum berührt uns die Szene mit der Sandale bis heute? Weil darin Souveränität und Zufall aufeinanderprallen. Ein Herrscher, der alles hat, erhält ein Zeichen, das er nicht kontrolliert. Und eine Frau, die gesellschaftlich nicht zur Elite gehört, wird – ohne Intrige, ohne Gewalt – erhöht. Kinder verstehen das als Magie, Erwachsene als Parabel über Aufstiegschancen. Frauen erkennen in Rhodopis nicht nur Schönheit, sondern Handlungsmacht (sie wird reich, sie stiftet, sie agiert); Männer sehen ein klassisches Erkennungszeichen der Erzählkunst: das eine Ding, an dem alles hängt.

Und wir historisch Investigativen (mit Humor) sagen: Die Griechen, die schon Demokratie, Theater und Philosophie erfanden, haben – nun ja – auch das Aschenbrödel erfunden. Nicht im Sinn einer Fabelfabrik, sondern als Kultur, die beobachtet, verdichtet, erzählt. Man darf dabei ruhig lächeln. Der Befund bleibt solide.

 

10. Fazit: Die Wahrheit wurde zum Märchen – nicht das Märchen zur Wahrheit

Die Fallakte „Rhodopis“ zeigt: Herodot liefert den Tatsachenkern; Strabon formt eine Anekdote; Aelian kanonisiert sie. Spätere Jahrhunderte basteln die heute vertrauten Märchenelemente darum – Stiefschwestern, Ball, Zauberhilfe –, die in den antiken Quellen nicht vorkommen. Wer behauptet, das Ganze sei ein altes ägyptisches Volksmärchen, irrt doppelt: Es ist griechische Überlieferung über eine Griechin in Ägypten – und in seiner ältesten Form sehr kurz, sehr prägnant, sehr anekdotisch. Genau das macht ihren Reiz aus.

Als ich die Spuren zusammenlegte, fiel die Entscheidung leicht: Das heitere Eingeständnis – mit einem leichten Augenzwinkern – darf sein. Aber die wissenschaftliche Arbeit dahinter bleibt ernst: Quellen lesen, Begriffe klären, Kontexte kennen. So löst man antike Rätsel.

 

Anhang: ausgewählte Zitate (kurz) & Quellen

Kurze Zitate (unter 25 Wörtern)

Anmerkung: Zitate sind bewusst kurz und inhaltsgerecht paraphrasiert, um dem wissenschaftlichen Zitiermaß und urheberrechtlichen Grenzen zu entsprechen.

Quellen & Literatur (Auswahl)

Primärtexte

  1. HerodotHistorien, Buch II, 134–135. (Dt. Übers. z. B. v. A. Horneffer u. a.; engl. Loeb‑Übers. A. D. Godley.)
  2. StrabonGeographika, 17, 33. (Engl. Loeb‑Übers. H. L. Jones.)
  3. AelianVaria Historia (auch Various Histories), 13, 33. (Engl. Loeb‑Übers. N. G. Wilson; ältere Ausg. On the Fortune of Rhodopis, a Courtesan.)
  4. AthenaiosDeipnosophistai (Die Gelehrten im Palaste), Buch 13 (Passagen zu Doricha/Rhodopis und Charaxos/Sappho).

Sekundärliteratur (einführend)
5. World History Encyclopedia, Joshua J. Mark: „The Egyptian Cinderella Story Debunked“ (23. 03. 2017) – zur modernen Fehlzuschreibung eines „ägyptischen“ Ursprungs und zur Rolle von Strabon/Aelian; mit Zitatnachweisen der antiken Stellen.⁵

 

 

 

Endnoten

 

¹ Strabon, Geographika 17, 33; vgl. die paraphrasierte Übersetzung der Schlüsselsätze.
² Herodot, Historien II, 134–135: Rhodopis in Naukratis; Reichtum; Delphischer Zehnt (eiserne Spieße); ausdrückliche Korrektur des Pyramiden‑Mythos.
³ Aelian, Varia Historia 13, 33: Wiederaufnahme der Strabon‑Anekdote mit Nennung „Psammetichus“ (gr. Form des Namens Psamtik).
⁴ Athenaios, Deipnosophistai 13 (u. a. 596c–598c): Differenzierung Doricha/Rhodopis, Sappho/Charaxos‑Bezüge.
⁵ Zusammenfassende moderne Darstellung und Quellenkonkordanz: World History Encyclopedia, „The Egyptian Cinderella Story Debunked“, inkl. direkter Zitat‑Belege aus Strabon/Aelian/Herodot.

 

 

Schlusswort


Was bleibt? Ein Lächeln – und eine Erkenntnis. Die Griechen, die so vieles „zum ersten Mal“ dachten und schrieben, gaben uns offenbar auch den Schuh, an dem die Weltliteratur hängt. Und wir, hier und heute, dürfen Spaß daran haben – ohne die Ernsthaftigkeit der Arbeit zu verlieren, die solche einfachen Geschichten wieder in ihr richtiges Licht rückt.

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